Ein Stückchen Ostgeschichte in Baden-Württemberg

Exkursionsbericht von Hanna Askari, Studentin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Blick von West nach Ost

Ich bin ein Kind der 90er Jahre, das im Westen Deutschlands aufwuchs. Hinzu kommt eine Migrationsgeschichte, die mich familiär von der deutsch-deutschen Geschichte entfernt. Deutschland war in meinem Leben immer eins, die DDR vom Gefühl her so lange vorbei wie der Zweite Weltkrieg. Je älter ich werde, desto klarer wird mir die Bedeutung dessen, dass dieses Deutschland keine 35 Jahre alt ist. 

Deutschland heute zu verstehen, bedeutet auch, die Geschichte Ostdeutschlands gleichberechtigt zu betrachten. Die Exkursion nach Pforzheim am 20. sowie 21. November 2024 war für mich ein erster Schritt, dieser Geschichte näher zu kommen.

Schon im Vorbereitungsgespräch stellte sich heraus, dass die meisten anderen Teilnehmenden ein persönliches Anliegen hatten, sich wissenschaftlich mit der DDR zu beschäftigen. Viele verband ihre Familiengeschichte oder ihr Herkunftsort mit dem Thema. Im Nachhinein beschäftigt mich daher die Frage, ob es aus westdeutscher Perspektive eventuell weniger Interesse an der deutsch-deutschen Geschichte gibt. Diesbezüglich geistert mir außerdem eine Situation während eines Seminars zur Bundesrepublik nach 1990 durch den Kopf: Das Seminar versuchte, Kontinuitäten zu analysieren. Es wurde argumentiert, dass sich durch die Führung Helmut Kohls nach der Wiedervereinigung nicht allzu viel verändert hätte. Die Diskussion wurde eine ganze Weile fortgeführt, bis jemand schließlich jene Sichtweise als einseitig kritisierte. Wie konnte man eine halbe Stunde über Kontinuitäten sprechen und dabei den Zusammenbruch eines ganzen Landes nicht berücksichtigen?

 

"Frauen in der DDR" – Lektüre

Zur Vorbereitung auf die Fahrt nach Pforzheim wurde allen Teilnehmenden Literatur zur Verfügung gestellt, bei der wir unseren Schwerpunkt selbst setzen konnten. Als Frau und Masterstudentin der Sozialgeschichte entschied ich mich für den Text „Frauen in der DDR“[1] von Anna Kaminsky. Meine genderspezifischen Vorkenntnisse zur Lektüre beliefen sich mehr oder weniger auf die Erzählung der Erfolgsgeschichte über die Emanzipation der DDR-Bürgerinnen durch ihre vermeintlich gleichberechtigte Teilhabe an Arbeit und Bildung. Dass sich jenes Narrativ in Teilen als Mythos herausstellte, arbeitet Kaminsky schnell heraus: „Gleichberechtigung hieß in der DDR vor allem: Arbeiten wie die Männer“[2]. So progressiv die Selbstverständlichkeit einer erwerbstätigen Frau rückblickend wirkt, so patriarchal war es doch in der Realität. Die „zweite Schicht“[3], als welche familiäre Care-Arbeit und Haushalt beschrieben wurden, führte zu einer Doppelbelastung bei Frauen, welche aus der konservativen Vorstellung geschlechtsbezogener Rollenverteilung hervorging. Das Thema Gleichberechtigung wurde von Seiten der männerdominierten Politik lange nicht weiter als mit der Teilhabe an Erwerbstätigkeiten bedacht.[4]

Laut Kaminsky waren in den 70er Jahren die Hälfte aller Studierenden in der DDR Frauen.[5] Sie heirateten zwar früh, doch ließen sie sich ebenso „ohne Probleme“[6] scheiden. Wie es sich im Detail abspielte, wird hier ausgelassen. Fakt bleibt, dass eine wirtschaftliche Unabhängigkeit – trotz Gender Pay Gap[7] – und eine zunehmend ausgebaute Kinderbetreuung mehr Freiräume in der privaten Lebensgestaltung ermöglichte. Die gläserne Decke zur politischen Beteiligung war jedoch ebenso Fakt.[8]

 


 [1] Kaminsky, Anna: Frauen in der DDR, Berlin 20203.

[2] Kaminsky: Frauen in der DDR, S. 14.

[3] Ebd, S. 19.

[4] Ebd, S. 18.

[5] Ebd, S. 19. Laut einer Statistik von Statista konnte diese Zahl erst in den 1980er Jahren erreicht werden, während die Frauen in der BRD mit zehn Prozentpunkten zurückblieben: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1148156/umfrage/weibliche-studierende-in-deutschland/, letzter Aufruf 12.01.2025.

[6] Kaminsky: Frauen in der DDR, S. 19.

[7] Ebd.

[8] Ebd, S. 21.

Nach der Wiedervereinigung sahen sich viele ostdeutsche Frauen mit dem westlich-konservativen Ideal der Hausfrau konfrontiert. Kaminsky argumentiert, dass das Selbstverständnis der Berufstätigkeit zwar auf Gegenwind und Häme stieß, doch auch einen Impuls für eine gesamtgesellschaftliche Weiterentwicklung in der Gleichstellungsfrage bot.[9]

Der Einfluss der ostdeutschen Frauen auf die gesamtdeutsche Frauenbewegung war das erste, was ich mir für meine persönliche Reflexion herausschrieb. Ich halte mich hier an Kaminskys Argumentationsstrang, auch wenn ich mir eingestehen muss, dass ich bis heute diesbezüglich zu wenig Wissen habe. Die Rolle von Frauen in der Gesellschaft, die Frage nach Freiheit, Emanzipation und Unabhängigkeit, könnte jedoch ein Beispiel dafür sein, dass wir als westdeutsch Geprägte die Widersprüche in der DDR nur schwer nachvollziehen oder gar akzeptieren können. Nach positiven Seiten der DDR zu fragen, scheint zu sehr an jene populistischen Argumente zu erinnern, die sich ähnlich für die NS-Zeit finden, wenn mit Vehemenz versucht wird, die positiven Seiten hervorzuheben (im Sinne der verherrlichenden Aussage: „Ohne Hitler hätten wir keine Autobahnen!“). Es scheint, als wäre es gerade heute und während eines spürbaren Rechtsrucks in unserer Gesellschaft kontraproduktiv, über positive Folgen autoritärer Regime zu sprechen. Dennoch: Eine ehrliche Aufarbeitung, die mehr Komplexität zulässt, wäre hilfreich für die Versöhnung unserer gespaltenen Gesellschaft. 

Das Buch von Anna Kaminsky hat einige blinde Flecken in der Frauengeschichte beleuchtet, die hier in ihrem Umfang nicht wiedergegeben werden können. Zum Nachdenken gebracht haben mich auf jeden Fall die politische Indoktrination durch die institutionalisierte Kinderbetreuung[10], die sowjetischen Arbeitslager in ehemaligen Konzentrationslagern[11] und die DDR-Friedensbewegung.



[9] Ebd, S. 23.

[10] Ebd, S. 109.

[11] Ebd, S. 229.

 

Frauen in der DDR – Guten Morgen, Ihr Schönen!

Einige ihrer Akteurinnen sollten in dem Dokumentarfilm „Die Unbeugsamen 2, Guten Morgen, Ihr Schönen!“ zu Wort kommen.[12]

Der Dokumentarfilm, den wir im Kommunalen Kino in Pforzheim sahen, stellte die erste Etappe auf unserer Exkursion dar. Er brachte Fleisch an die theoretischen Knochen des von mir gelesenen Texts. Bildlich füllte er die Graubereiche alltäglichen Lebens. Insbesondere Künstler und Künstlerinnen und ihre Kunst wurden im Film vorgestellt, u.a. Wolf Biermann und Nina Hagen, zwei berühmte Gesichter des künstlerischen Widerstands, beide ausgebürgert. Doch auch filmische Kunst, wenn auch später teilweise verboten, bleibt mir als Widerstandsmedium im Kopf. Zu nennen sind beispielsweise „Spur der Steine“ aus dem Jahr 1966, „Das Kaninchen bin ich“ von 1964/65 oder „Solo Sunny“ von 1980.  

In der anschließenden Diskussion im Kino wurde weiter über Frauen in der DDR reflektiert und darüber nachgedacht, inwiefern die Emanzipation in der DDR ein Mythos sei – ein klares Fazit gab es nicht. Denn, wie emanzipiert kann man geschlechtsunabhängig in einem autoritären Staat sein? Die spannende Frage für mich jedoch blieb: Welchen Einfluss hat die de facto geschaffene Realität so vieler Frauen auf das Heute? 



[12] Der Dokumentarfilm „Die Unbeugsamen 2, Guten Morgen, Ihr Schönen!“ kam 2024 ins Kino. Regie führte Torsten Körner. Im Film geht es um Frauen in der DDR, um Teilhabe, Selbstbestimmung und Eigensinn. Von Körner erschien bereits 2021 der Film „Die Unbeugsamen“ über Frauen in der Politik in der Bonner Republik. 

 

Besuch im DDR-Museum und Zeitzeugengespräch

Am folgenden Tag waren wir im DDR-Museum Pforzheim, dem bisher einzigen auf ehemals westdeutschem Gebiet. Eine Führung durch die Ausstellung erhielten wir durch den Museumsleiter Moritz Bach, wobei das Museum als „Lernort Demokratie“ für Geschichtsstudierende mitunter pädagogisch etwas überhöht daherkam. 

Die aus meiner Sicht interessantesten Ausstellungsstücke befanden sich buchstäblich im Keller. Hier, für die Öffentlichkeit im Normalfall nicht zugänglich, sahen wir eine Gefängniszelle, einen Verhörraum und einen Raum mit ehemaligen Zelltüren, die aus unterschiedlichen DDR-Gefängnissen stammen. Der Gründer des Museums, Klaus Knabe, ein DDR-Bürger mit Fluchtgeschichte, hatte die Gegenstände zusammengetragen und die Räume in Pforzheim selbst eingerichtet. Als Quelle funktionieren diese nachgebauten Orte daher nur sehr bedingt, aber sie zeigen sehr gut, worauf der Museumsgründer seinen Fokus legte: den Unrechtsstaat spür- und erlebbar machen. 

Nicht zuletzt über diesen Punkt entfachte sich im Anschluss an die Führung eine Diskussion über die kognitiven, ästhetischen und politischen Dimensionen historischer Museen als Orte des Lernens. Hier prallten diverse Vorstellungen und Konzepte des Museumswesens aufeinander. Auch die Frage: Wieviel kann man von einem kleinen, primär an Schüler und Schülerinnen gerichteten Museum erwarten? 

Das Zeitzeuginnengespräch bot auf allen Ebenen das wohl interessanteste Lernpotenzial. Ausführlich berichtete eine Zeitzeugin über das an ihr begangene Unrecht. Mein Notizbuch war schnell vollgeschrieben. In der anschließenden Diskussion gingen wir mit unseren Fragen immer mehr ins Detail, stellten Fragen zur Alltagskultur und Emotionsgeschichte. Ich merkte, wie mir das ganze Thema nah ging. In unseren Gefühlen gefangen, beendeten wir schließlich das Gespräch und damit auch die letzte Etappe unserer Exkursion. 

Wissen und wissen wollen

Erst im Auto, durch den Austausch mit drei Kommilitonen und Kommilitoninnen, begann die Aufarbeitung dessen, was wir gehört hatten. Wir begannen zu reflektieren, welchen Wahrheitsgehalt wir verbuchen konnten, welche Geschichte objektiv stattgefunden haben konnte und was wir alles noch nicht wussten. Eine wichtige Erkenntnis für uns alle war, dass es klare Grenzen gibt in dem, was wir von Zeitzeugen und -zeuginnen erfahren können. Sicherlich, eine einzelne Person kann nur über ihr eigenes Leben authentisch berichten. Ihre Aufgabe ist es nicht, einen gesamtgesellschaftlichen Überblick zu geben oder gar geschichtswissenschaftlich vorzugehen. Was bräuchten wir also für die neutrale Bewertung einer Epoche? Für ein vollständiges Bild? Was ist mit dem Erleben derjenigen, die Nutzen aus der DDR gezogen haben, den Profiteuren und Profiteurinnen? Nicht um Täter- und Täterinnenschaft hochzuhalten, sondern um mit mehr Objektivität Geschichte aufzuarbeiten. Wir bemerkten Muster: So westorientiert unsere Exkursionsgruppe war, so leidorientiert war die Auswahl der Personen, die auf dieser Exkursion zu Wort kamen. Hier sehe ich einen Knackpunkt, oder besser, einen Knoten, der nicht leicht zu entwirren ist. Denn unsere Sichtweise auf die DDR ist weiterhin westlich geprägt. Der Westen ging im Kalten Krieg als Gewinner hervor und hat eventuell bis heute einen Nutzen davon, das Leid der DDR hervorzuheben. Dieser Ansatz ist humanitär betrachtet erst einmal sehr wichtig und wertvoll für eine Gesellschaft. Doch bezweifle ich, dass wir uns erlauben dürfen zu sagen, er sei objektiv und entideologisiert. An diesem Punkt müssen vor allem diejenigen Vorsicht walten, die das geteilte Deutschland nie erlebt haben. Wir müssen selbstkritischer werden und die Auswahl der gehörten Stimmen reflektieren.

Diese Exkursion hat mir vor allem vor Augen gehalten, wie wenig ich tatsächlich über die deutsch-deutsche Geschichte weiß. Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftige, desto mehr Fragen entspringen an den Rändern des Besprochenen und im Bereich des Nicht-Besprochenen. 

Medial wird Ostdeutschland eine Andersartigkeit unterstellt. Die realen Folgen der Eingliederung nach 1990 sind entweder lückenhaft bearbeitet oder gar vergessen. Mein persönliches Vorhaben ist es, jene Folgen und Auswirkungen des Zusammenbruchs mit mehr wissenschaftlicher Schärfe zu begegnen. Ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ich weiß auch, dass ich mehr wissen muss. 

"89 goes Pop" ist Teil des BMBF-Verbundprojekt "Das umstrittene Erbe von 1989"

Weitere Informationen unter www.erbe89.de