Exkursionsbericht von Martha Schölzel, Freiburg/Br.
Durch die Exkursion zur Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße ist mir sehr deutlich geworden, wie unterschiedlich die Einzelschicksale in der DDR waren. Während ich aus meiner Schulzeit wusste, dass die DDR ein Staat mit demokratischerem Anspruch, aber undemokratischer Praxis war, kenne ich aus meiner Familie eine andere Erzählung: Meine Oma beschreibt ihre Studienzeit in Erfurt als positiv, ein Familienmitglied war bei der Stasi und bereut das bis heute nicht. Nur mein Vater spricht negativ über die DDR, weil ihm einige Wege verwehrt wurden.
Für mich war die Exkursion deshalb interessant, weil ich mich mit der DDR-Geschichte aus wissenschaftlicher Perspektive auseinandersetzen konnte. Der Besuch hat mich dazu gebracht, über verschiedenste Schicksale nachzudenken. In diesem Bericht möchte ich anhand der drei Reflexionsbegriffe „merkwürdig“, „nachdenklich“ und „überraschend“ meine wichtigsten Erkenntnisse darstellen und anschließend die verschiedenen Vermittlungsformen einordnen.

Merkwürdig
Merken möchte ich mir, dass Menschen auch in einem System der Unterdrückung Handlungsspielräume hatten, kleine und große, um Menschlichkeit zu zeigen oder Widerstand zu leisten. Dies ist mir besonders im Zeitzeugengespräch klar geworden. Der ehemalige Häftling in der Andreasstraße berichtete von einem Wärter, der den Gefangenen heimlich die aktuellen Fußballergebnisse mitteilte. Gleichzeitig gab es andere Wärter, die bewusst die Türen laut schlossen und das Licht nachts anließen, um die Gefangenen zu drangsalieren.
Aus seiner Zeit nach der Haft berichtete der Zeitzeuge von zwei informellen Mitarbeitern der Stasi. Diese bespitzelten seine Kirchengruppe, aber sie erzählten nichts Bedeutsames weiter. Diese Beispiele stehen im Kontrast zu dem Narrativ aus meiner Familie: "Man musste mitmachen, sonst wäre man selbst dran." Hedwig Richter beschreibt diese Phänomene als "konstitutive Widersprüchlichkeit" des Systems – während die SED totale Kontrolle beanspruchte, gelang es vielen Bürgern, sich in den Lücken des Systems zu engagieren. (Richter, 2009, S. 8)
Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir die Aussage des Zeitzeugen, dass die friedliche Revolution deshalb friedlich war, weil die Menschen Kerzen in den Händen hatten und damit die Hände nicht frei waren, etwas kaputt zu machen. Diese Erklärung überraschte mich und warf gleichzeitig neue Fragen auf: Stimmt das wirklich? Welche anderen Faktoren trugen zum friedlichen Verlauf bei?

Nachdenklich
Die Erzählungen des Zeitzeugen unterschieden sich deutlich von denen aus meiner Familie. Trotzdem habe ich versucht, beide Perspektiven miteinander in Einklang zu bringen. Was nicht funktioniert hat, weil alle aus unterschiedlichsten Perspektiven berichten, von unterschiedlichen Orten innerhalb der DDR. Nicht jede Person hat dieselben Erfahrungen gemacht, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Die DDR hat nicht „die eine Geschichte“.
Wo sich die Erzählungen dennoch ähneln: beim Thema Gemeinschaftsgefühl, das in der DDR als besonders stark wahrgenommen wurde. Der Zeitzeuge ordnete dies jedoch kritisch ein. Er sagte, dass man aufgrund des Mangels auf andere angewiesen war. Steffen Mau (2019) bestätigt dies: „Über ein weitgespanntes Netz von Kontakten zu verfügen, war überaus vorteilhaft“ (S. 107).
Nachdenklich stimmt mich, dass diese positive Bewertung des Gemeinschaftsgefühls eine klassische Erzählung von DDR-Bürgern ist, aber nicht alle so reflektiert damit umgehen wie der Zeitzeuge. Möglicherweise wurde er gerade deshalb für die Gespräche ausgewählt.
Erschreckend war außerdem zu erfahren, dass es besonders in den siebziger und achtziger Jahren zu vielen rassistischen Übergriffen kam, über die offiziell nicht berichtet wurde (Mau, 2019, S. 97). In Erfurt fanden vom 10. bis 13. August 1975 rassistische Übergriffe auf algerische Gastarbeiter statt. Bis heute haben weder die Stadt Erfurt noch das Land Thüringen eine angemessene Erinnerungsarbeit zu dieser Zeit geleistet.

Überraschend
Diese selektive Erinnerungsarbeit zeigt sich auch im Erfurter Stadtbild. Wir bewegten uns hauptsächlich in der mittelalterlich geprägten Altstadt, dennoch ist es überraschend, wie wenig von der DDR-Zeit sichtbar ist. Die touristische Vermarktung konzentriert sich bewusst auf das mittelalterliche Erbe. Entsprechend behandeln auch die Informationstafeln meist mittelalterliche und frühneuzeitliche Ereignisse. Beeindruckend war für mich jedoch das, was man nicht sieht: Die Erfurter Bürger verhinderten während der DDR-Zeit den Abriss von Teilen des Andreasviertels und den Bau einer vierspurigen Straße. Versteckt in der Zitadelle auf dem Petersberg befindet sich das Stasi-Unterlagen-Archiv mit einer kleinen Ausstellung zu frühen DDR-Oppositionellen.
Nach der Exkursion fragte ich Familienmitglieder, ob sie ihre Stasi-Unterlagen angefordert haben, alle verneinten. Sie möchten nicht erfahren, wer aus ihrem näheren Umfeld sie möglicherweise bespitzelt hat. Dies macht die Komplexität der Aufarbeitung noch deutlicher.

Reflexion der Vermittlungsmethoden
In der Gedenkstätte wurden verschiedene Medien eingesetzt: Multimedia-Guide, die erhaltene Haftetage, Comics, Aktenausschnitte und Zeitzeugeninterviews. Besonders interessant fand ich, dass der Ort selbst eine doppelte Geschichte erzählt. Als Ort der Unterdrückung bis 1989 und als Ort des Widerstands, da hier Erfurter Bürger am 4. Dezember 1989 das Gebäude besetzten, um die Vernichtung der Stasi-Unterlagen zu verhindern.
Der Multimedia-Guide erzählt die Geschichte des Widerstands bei der Andreasstraße, aber auch in dem Innenstadtgebiet Erfurts. Dieser hat mich überfordert, weil ich gleichzeitig den Erzählungen zu folgen, Bilder anzuschauen, die heutigen Orte zu betrachten und mich dabei zu orientieren. Ein einfacher Audioguide hätte mir besser gefallen oder eine klassische Stadtführung.
Besonders wertvoll fand ich die verschiedenen Zeitzeugengespräche – auf der Website, in der Ausstellung und persönlich. Gleichzeitig offenbarte sich dabei ein Problem: Wer ist bereit zu sprechen? Wenige Frauen sprechen über ihre Hafterfahrungen und von den Wärtern gibt es keine Interviews. Obwohl die Ausstellung multiperspektivisch gestaltet ist und die Entwicklung der DDR-Forschung von der reinen Repressionsperspektive hin zu Grauzonen und Alltagsleben berücksichtigt, fehlen wichtige Stimmen.
Fazit
Die Exkursion hat mir einen erweiterten Zugang zur DDR-Geschichte ermöglicht und neue Lebensrealitäten aufgezeigt. Vor allem aber wurde mir bewusst, wie komplex, widersprüchlich und umkämpft Erinnerung ist. Als Gedenkstätte zwischen verschiedenen Perspektiven zu vermitteln, ist eine schwierige Aufgabe. Diese Erfahrung hat mich auf jeden Fall dazu inspiriert, meine Familiengeschichte genauer kennenzulernen, genauso wie die Grauzonen der DDR.
Literatur
Mau, Steffen (2019). Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Berlin.
Richter, Hedwig (2009). Die DDR. Paderborn.
