Spielfilme zu machen, ist eine aufwendige und teure Angelegenheit. Auch der Zugang zu entsprechenden Ausbildungen, aber auch Produktionsmitteln und Veröffentlichungsmöglichkeiten ist im Filmbusiness aufwendiger als in anderen Medienformen. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum sich die Erinnerungskultur um 1989/90 und ostdeutsche Erfahrungsräume im Spielfilm vergleichsweise langsam verändert und öffnet. Anders sieht das im Dokumentarfilm aus. Dokumentarfilme laden dazu ein, den Blick auf weniger beachtete Themen und auf die leisen Tönen zu richten. Auf Bilder, die sich Zeit nehmen für ihre Protogonist:innen und (Zeit-)Räume. Nicht zuletzt haben marginalisierte Perspektiven aus und auf die Umbruchszeit hier früh ihren Platz gefunden – auch wenn sie oft zunächst nur wenig Sichtbarkeit erfahren haben. Aus dem reichen Fundus von Dokumentarfilmen, die quer zu den dominierenden Perspektiven oder jenseits des Scheinwerferlichts liegen, stellen wir hier einige ausgewählte Beispiele (in etwas anderer Form) vor.
1991, 28 min
Regie & Buch: Angelika Nguyen
Der Film beschreibt aus zeitgenössischer Perspektive die Lebenssituation von Vietnames:innen in der frühen Nachwendezeit. Er erzählt von der Erfahrung, quasi über Nacht mit einer prekär gewordenen Wohn- und Arbeitssituation konfrontiert zu sein. Davon, was dies insbesondere für Schwangere oder Frauen mit Kindern bedeutete. Er erzählt von rassistischer Gewalt und Gegenwehr. Und von den Schwierigkeiten mit der Entscheidung, die „Angebote“ der Bundesregierung 1990 anzunehmen und nach Vietnam zurückzukehren oder (trotz allem) zu bleiben.
Siehe auch „Doppelt heimatlos?“, ein Beitrag der Regisseurin Angelika Nguyen zur Debatte über „Ostdeutsche als Migranten“ und Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zwischen weißen und nicht-weißen Ossis, ZEIT Online, 4.6.2018
Der Film ist in ganzer Länge auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung zu sehen
2019, 117 min
Regie & Buch: Barbara Wallbraun
Der Film erzählt entlang von Begegnungen und Gesprächen mit sechs Protagonistinnen über lesbisches Leben in der DDR, das oft mit Marginalisierung einherging. Auch wenn der Film den Schwerpunkt auf die DDR-Zeit ab den 1960er Jahren legt, sind die Erzählungen in der Gegenwart verortet und weisen über den Umbruch von 1989/90 hinaus.
Interview mit der Filmemacherin im Deutschlandfunk Kultur
Einen Trailer gibt es auf der Webseite des Films,
anschauen kann man ihn on
Demand bspw. hier
2000, 84 min
Regie & Buch: Can Candan
1991 kam der Filmemacher Can Candar nach (West-)Berlin. Er widmete sich der Frage, wie der Mauerfall und seine Folgen eigentlich von den hier lebenden Türk:innen wahrgenommen wurde. Daraus ist mit „Duvarlar – Mauern – Walls“ ein vielschichtiges Zeitdokument entstanden, dem es gelingt, mit Impressionen aus der Stadt, Interviews sowie spontanen Gespräche auf der Straße die Stimmung und Lage der Türk:innen in dieser Zeit einzufangen. Neben Alltagserfahrungen vermittelt der Film einen Eindruck von den verschiedenen Ansichten zum gesellschaftlichen Umbruch, aber auch über Zugehörigkeit und Identität zwischen Türkei, Ost- und Westdeutschland. Deutlich wird dabei vor allem, wie eng das (kurze) Einheitsgefühl der Deutschen mit einem neuen oder zusätzlichen Ausschluss der Migrant:innen verwoben war.
Der Film ist in ganzer Länge auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung zu sehen
Dokureihe seit 2015, jeweils 45 min
Redaktion: Silke Heinz, Produktion: Olaf Jacobs, u.a.
Die Doku-Reihe beschäftigt sich mit dem Wandel der Eigentumsverhältnisse mit und nach dem Umbruch von 1989/90 bis heute. Im Mittelpunkt stehen verschiedene Orte und Perspektiven in der Stadt, auf dem Land oder in Wirtschaftsbetrieben. Die Dokus kombinieren Überblicksdarstellungen und Faktenwissen (etwa zu den rechtlichen Hintergründen) mit beispielhaften Geschichten ehemaliger, neuer und gebliebener Eigentümer:innen. Sie vermitteln dabei ein differenziertes Bild: über die großen Trends in den Besitzumbrüchen und über die damit verbundenen Uneindeutigkeiten, Probleme und Widersprüche.
Die dazu gehörige Multimedia-Reportage des MDR ist hier zu finden
2018, 35 min
Regie: Diane Izabiliza, Co-Autor: Iman Al Nassre
Fünf Protagonist:innen of Color berichten in Interviews sowie im gemeinsamen Gespräch von ihren Biografien – ihren Erfahrungen in der DDR, wie sie den Mauerfall erlebten und davon, wie es ihnen danach erging. Aus einer Perspektive, die Erfahrungen aus Ost und West integriert, werden Ähnlichkeiten und Unterschiede deutlich – mit Blick auf die wachsende rassistische Bedrohung in den 1990er Jahren, aber auch auf Differenz- und Ausgrenzungserfahrungen mit weißen Feminist:innen. Wie die Protagonist:innen des Films damit umgingen und sich als Schwarze/PoC Frauen* organisierten, bildet einen Schwerpunkt des Films.
Ein Interview mit den Filmemacher*innen findet sich hier
Der Film in ganzer Länge ist auf der Projektwebseite zu sehen
1991, 100 min
Regie: Andreas Voigt
Der Dokumentarfilmemacher Andreas Voigt begleitete für diesen Film ein Jahr lang (von 12/1989 bis 12/1990) fünf Leipziger:innen. Es entstanden einfühlsame Portraits über ihre Hoffnungen, Träume und Ängste.
Der Film ist Teil von Voigts „Leipzig Reihe“, in der er einige der Protagonist:innen weiter begleitete. Zu dieser Reihe gehören weiterhin „Leipzig im Herbst“ (1989), „Glaube Liebe Hoffnung“ (1994), „Große Weite Welt“ (1997) und „Alles andere zeigt die Zeit“ (2015).
1993, 78 min
Regie: Mark Saunders, Siobhán Cleary
Der Film dokumentiert den Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992. Er besteht aus Material, das während der Ereignisse entstand sowie aus kurz danach geführten Interviews. Der Schwerpunkt liegt auf der Perspektive der von der Gewalt Betroffenen sowie auf der Gegenwehr von ehemaligen Vertragsarbeiter:innen und linken Jugendlichen. „The truth lies in Rostock“ ist damit ein wichtiges Zeitdokument im Prozess einer lange Zeit einseitigen und zögerlichen Aufarbeitung des Pogroms.
Eine Ausführliche Einordnung des Films findet sich auf Zeitgeschichte Online
Der Film in ganzer Länge ist auf Youtube zu sehen
seit 1961, versch. Längen
Regie: Barbara Junge, Winfried Junge
Die Langzeitdokumentation begleitete 18 Menschen, die Anfang oder Mitte der 1950er Jahre geboren wurden. Ihnen gemeinsam ist, dass sie aus dem brandenburgischen Dorf Golzow stammen. Im Rahmen der Dokumentation wurden sie immer wieder aufgesucht. So entstanden die Portraits ganz unterschiedlicher Lebenswege, die bis in die Nullerjahre reichen. Das Bemerkenswerte an der Doku-Reihe ist, dass sie vom „ganz normalem Leben“ in einer longe durée erzählt. Diese reicht von der DDR über die Umbruchszeit und vermittelt so ganz konkrete „lange Geschichten der Wende“ – lange bevor der Begriff erfunden wurde.
Kostenfrei zu sehen sind etwa der erste Film der Reihe über die Einschulung der „Kinder von Golzow“ von 1961 oder „Da habt ihr mein Leben. Marieluise“ von 1997, der den Werdegang von Marieluise bis Mitte der 1990er zusammenfasst.